„Der Reichtum der Natur ist uns mit vielen Gesichtern begegnet. Als Freiraum, Spielraum, Beziehungsraum, Entdeckungsraum, Gestaltungsraum, Selbsterfahrungsraum, Rückzugsraum. […] Da kommt alles vor, was Kinder suchen und brauchen, in einer für jedes Kind auf jeder Entwicklungsstufe zugänglichen Mischung.
[…] Naturerfahrungen sind für Kinder eine Stärkung. Sie helfen ihnen das Fundament für ihr Leben zu legen – körperlich, seelisch und mitmenschlich. Kurz: Die Natur macht den Kindern ein Angebot. Es ist größer und reicher als das, was wir heute in unserer künstlichen Betulichkeit als >>Förderung<< abgespeichert haben. Und es reicht tiefer.
Ich wage deshalb zu behaupten, dass das selbstbestimmte Draußensein in einer unstrukturierten Umwelt ein Grundbedürfnis für Kinder ist. Sie haben ein Naturbedürfnis“
Herbert Renz-Polster & Gerald Hüther: Wie Kinder heute wachsen – Natur als Entwicklungsraum. 2016, S.56f.
Waldorfpädagogik und Echtes Leben auf dem Bauernhof
Als wir begannen unseren Hof für pädagogische Angebote zu öffnen, waren wir pädagogisch noch sehr unbedarft. Vieles von dem, was heute zu unserem Verständnis von Entwicklung und Erziehung gehört haben wir im Tun mit den Kindern erlebt und gelernt. Bei der Suche nach einer pädagogischen Theorie, die zu unseren Erfahrungen passt, sind wir auf die Waldorfpädagogik gestoßen. Diese entspricht in ihren Prinzipien für die praktische Pädagogik unseren Erfahrungen und konnte diese erweitern und bereichern.
Individualität
Das Bild vom Kind wird in der Waldorfpädagogik besonders von der Annahme geprägt, dass das Kind die Anlagen für seine Entwicklung in sich trägt (vgl. Steiner, 2009, S.14). Auch unter nahezu gleichen Umständen entwickelt sich also jedes Kind individuell. Für unsere Haltung gegenüber den Kindern bedeutet dies, dass wir respektvoll und voller Achtung und Erwartung vor dem, was sich in den Kindern schon befindet und entfalten wird, den Kindern gegenüber treten. Die Individualität jedes einzelnen Kindes steht im Vordergrund (vgl. Patzlaff & Saßmannshausen, 2012, S.7). Ganz praktisch bedeutet dies, dass jedes Kind vollkommen frei wählen darf, wie es bei was teilnehmen möchte.
Rhythmus
Einen großen Wert legen wir (zum Beispiel in der Ferienbetreuung, in welcher die Kinder meist eine ganze Woche auf dem Hof erleben) auf einen rhythmischen Tagesablauf. Dies hat ebenso auf Erwachsene wie auch auf Kinder eine äußerst wohltuende, entspannende Wirkung. Ein besonderes Plus auf dem Bauernhof ist, dass diese Rhythmen von allein entstehen und auch eine tatsächliche Notwendigkeit haben. Morgens benötigen die Tiere zunächst ihr Futter, erst anschließend bekommen wir unser Frühstück, nachmittags vorm Abholen werden alle Tiere noch einmal versorgt und gefüttert. Rhythmen auf dem Bauernhof sind also echt und nachvollziehbar und machen die Welt für das Kind erlebbar. (vgl. Patzlaff & Saßmannshausen, 2012, S.19f.)
Grenzen erfahren
Bezieht man nun die angesprochene Individualität mit ein, so ist es für uns klar, dass kein Kind die Tiere füttern muss, beim Ausmisten oder Frühstück zubereiten helfen muss. Dennoch spüren Kinder die Konsequenzen, denn wenn wir nicht zusammenarbeiten, brauchen wir deutlich länger bis wir selbst zum Frühstücken kommen. Ganz klar ist auch, dass wer anfängt den Hasenstall auszumisten, diesen auch zu Ende misten muss, damit die Hasen wieder einziehen können. Hilfe darf er sich natürlich jederzeit dazu holen.
Nicht immer sind in der heutigen Lebenswirklichkeit für Kinder Grenzen klar erlebbar. Man darf nicht laut sein, nicht rennen, nicht toben und soll still sitzen, meist weil die Erwachsenen dies sagen. Auf dem Bauernhof erleben die Kinder diese Dinge, weil sie notwendig sind. Das scheue Pony wendet sich ab, wenn man rennt oder laut ist. Ist aber kein Tier in der Nähe, dann kann man auch so richtig laut und wild sein und keinen stört es, denn wir sind draußen. Auch das Wetter lässt sich von uns nicht beeinflussen.
Die Natur bietet also von sich aus eine Widerständigkeit, an welcher sich die Kinder erleben und messen können. Als begleitende Pädagogen haben wir also nur die Aufgabe, mögliche Lösungswege anzubieten oder gelegentlich zu unterstützen. Haben wir zum Beispiel einen kalten windigen Tag, so erleben die Kinder, dass wir das Wetter nicht ändern können und uns daran anpassen müssen. Als Pädagogen kochen wir zum Beispiel einen warmen Tee und zünden mit den Kindern ein Feuer an. Das eigene Schicksal wird als handhabbar erlebt.
Natur als Erlebensort
…bedeutet Wind und Regen auf der Haut zu spüren und sich in der Sonne wärmen zu lassen. Die eigenen Körperkräfte entdecken beim Apfelbaumschütteln und Rasenmähen. Die Rhythmen der Natur zu spüren und die Jahreszeiten am eigenen Körper zu erfahren. Geduld zu entwickeln für alles, was wächst und entsteht, das Feuer, der Kopfsalat und die Karotte im Gemüsebeet, das Fohlen und die Lämmer im Bauch ihrer Mama. Das Wechselspiel von Geburt und Tod, von Wachsen und Vergehen erleben. Mit allen Sinnen erleben und entdecken. Erschöpfung und Energie spüren, echten Hunger und wohlige Sättigung erfahren. Bei den Tieren bedingungslose Autorität aufbringen aber auch echte Zuneigung beobachten. Unbeobachtet von Erwachsenen im sozialen Miteinander mit den anderen Kindern die eigene Position finden.
Aus all diesen Gründen nennt der Philosoph Andres Weber die Natur den Ort, an dem Kinder von selbst zu Menschen werden
„[Es geht] in erster Linie um das Erleben der Natur, nicht so sehr um Kenntnisse. Kenntnisse über die Natur zu gewinnen, setzt voraus, dass man Liebe zu ihr entfaltet. Daraus entwickelt sich dann von allein das Bedürfnis mehr darüber wissen zu wollen.“ Gabriele Pohl, 2014,S.128
Wir möchten den Kindern so viel Freiheit wie möglich bieten, damit sie tun können, was das Leben und das Herz verlangen. Aus diesem Grund wird die Natur bei uns nicht in erster Linie als Lernort betrachtet und gestaltet, sondern als Erlebensort der die freie Entfaltung der Persönlichkeit ermöglicht. Rhythmen und Regeln werden daher nicht vorgegeben oder „doziert“, sondern von uns vorbildhaft gelebt und durch ihre Notwendigkeit auch von den Kindern erfahren.
Verantwortung übernehmen
Durch das Versorgen der Tiere erleben die Kinder außerdem Verantwortung. Wir frühstücken erst, wenn die Tiere versorgt sind. Schläft das Pony können wir nicht mit ihm spazieren gehen, da bekommt es schlechte Laune und füttern wir die Hühner nicht oder scheuchen sie beim Toben zu oft auf, dann legen sie keine Eier mehr.
Unmittelbarkeit
Wir sind unsere eigenen Köche und bereiten unsere Mahlzeiten am Feuer oder im Holzbackofen zu. Gemüse ernten wir im Hochbeet und Mehl mahlen wir in der kleinen Getreidemühle. Das sind nachvollziehbare Tätigkeiten die den Kindern einen direkten Bezug zu dem vermitteln, was draußen wächst und dann auf unserem Teller landet. Die Welt wird nachvollziehbar und verständlich. Eigene Fähigkeiten werden sicht- und schmeckbar. (vgl. Patzlaff & Saßmannshausen, 2012, S.20ff)
Durch solche Erlebnisse, erfährt das Kind ein starkes Verbundensein mit der Welt und fühlt sich in dieser beheimatet.
Haltung der Erwachsenen
Zu Beginn ihrer Entwicklung sollen Kinder nicht durch belehrende oder beschreibende Ansprache vom eigenen kreativen Entdecken der Welt abgelenkt werden. Viele Verbote verhindern, dass die Kinder ihre eigenen Grenzen und die Grenzen anderer erleben. Eine beschreibende, begleitende Ansprache stülpt den Kindern die Erwachsenensicht auf und nimmt den Kindern den Freiraum, die Welt in ihrer eigenen Kreativität wahrzunehmen.
Unsere Pädagogik soll absichtslos sein und vom echten Leben bestimmt. Es gibt keine Lernziele oder Vorher-Nachher-Vergleiche. Die Kinder werden genau so angenommen, wie sie sind. Schulische Leistungen spielen hier keine Rolle. In dem Rahmen, den der Bauernhof bietet, ermöglichen die Pädagogen alles, was die Kinder wünschen. Und dieser Rahmen bietet schon sehr viel, von dem die Kinder ganz von allein lernen können. Der Pädagoge ist hier selbst Vorbild, Landwirt, Koch, Helfer und Ermöglicher. Nicht Verhinderer, Reglementierer, Bildungsziele-Planer usw.
In ihrer Freizeit tun die Kinder heute viel, was die Erwachsenen für lehrreich halten. Auf dem Bauernhof sind Ferien von der Leistungsgesellschaft. Ein Umfeld ganz ohne die Absicht einem etwas beizubringen und das einem doch viel eindrücklicher, nachhaltiger und freudvoller so viel beibringt.
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